"Im Fremden ungewollt zuhaus"

Ankommen in der neuen Heimat - Zwölf Zeitberichte im Stadtmuseum

veröffentlicht am 22.07.2017

Hermann und Anna Schindler nahmen jede Arbeit an. Hermann betrieb einen Zeitungsstand in der Maximilianstraße. Fotos (Repro): Sonnleitner 

Memmingen (as). „Vergangenheit kann man nicht bewältigen, sondern nur erzählen“, diese Aussage der deutsch-jüdisch-amerikanischen Philosophin Hannah Arendt begleitet die Ausstellung „Ankommen in der neuen Heimat“ im Stadtmuseum. Im Mittelpunkt des Projekts der „Zeitmaschine Freiheit“ stehen die Erinnerungen von zwölf Zeitzeugen und ihren Nachkommen. Sie stehen exemplarisch für die Schicksale der 6.543 Heimatvertriebenen, die 1946 aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten nach Memmingen kamen.

Hier das Begleitprogramm zur Ausstellung (bitte anklicken).

Wegen ihrer Deutschstämmigkeit wurden sie vertrieben und galten in der neuen Heimat doch als Fremde: Allein aus dem Sudetenland wurden nach Kriegsende etwa drei Millionen Menschen ausgewiesen. In Memmingen, das zu Kriegsbeginn 16.346 Einwohner zählte, wuchs die Bevölkerung 1946 schlagartig um 40 Prozent. Als Zwischenlager diente unter anderem die Barackensiedlung auf dem Hühnerberg: Hier wurden 2.000 Heimatvertriebene auf engstem Raum untergebracht.

Diese Vitrine zeigt einen Ausschnitt aus den Lebenserinnerungen von Meinhard Schütterle, geboren 1944.

„Tüchtige Leute mit Fleiß“

Aus heutiger Perspektive war die Zuwanderung ein Glücksfall, denn die neuen Mitbürger haben sehr viel zum Aufbau beigetragen. Als „tüchtige Leute mit Fleiß“ beschreibt sie Staatsminister a.D. Josef Miller. Er ist einer der zwölf Zeitzeugen, denn auf dem elterlichen Hof im schwäbischen Oberschöneberg waren Heimatvertreiben untergebracht. Andere Zeitzeugen, wie die 1923 in Römerstadt (Kreis Freudenthal) geborene Frida Güttler, haben am eigenen Leibe erlebt, was es hieß, im Nichts zu landen und zu siebt in einem 14 Quadratmeter großen Raum auf blankem Beton zu schlafen.

„Die Vertrieben kamen in zerstörte, zerbombte Stadtteile, geprägt von immenser Wohnungsnot und schlechter Versorgungslage“, erläuterte der Volkskundler und Kulturanthropologe Prof. Dr. Michael Prosser-Schell in seinem Referat bei Ausstellungseröffnung. (Als eine seiner Quellen nannte er „Im Fremden ungewollt zuhaus: Flüchtlinge und Vertriebene in Westdeutschland“ von Albrecht Lehmann, 1991.)

„Umsiedlung, das war ein neutraler Begriff, in Wirklichkeit war das sehr brutal“, beschreibt Josef Miller in seinen Erinnerungen. Denn die „Willkommenskultur 1946“ war vielerorts von Ablehnung  und Diskriminierung geprägt, was sich durch die Zwangsunterbringung der Flüchtlinge in privaten Haushalten noch verschärfte. „Kochlöffelkrieg“ nannte man die erzwungene Mitbenutzung von Herdplätzen in dieser Zeit der Not. 

Prof. Dr. Michael Prosser-Schell aus Freiburg referierte über die schwierige Situaion und die Integration von Vertriebenen nach dem 2. Weltkrieg.

"Die Menschen haben sich zusammengerissen und Häuser gebaut"

Doch hier und da haben Einheimische auch nachhaltige Überlebens- und Aufbauhilfe geleistet. Und die Fremden packten tüchtig mit an: "Die Menschen haben sich zusammengerissen und Häuser gebaut und sich aus der Not befreit, trotz großer Schwierigkeiten“, schloss Prosser-Schell seinen Vortrag, bevor die Gäste in die Ausstellung entlassen wurden.

Im Mittelpunkt steht hier ein 90-minütiger Film mit Interviews der Zeitzeugen und Zeitzeuginnen, gedreht von Veronika Dünßer-Yagci, Filmkünstlerin und Dokumentarfilmerin aus Oberstdorf. Ausschnitte aus diesen Lebensläufen sind auf den Tafeln der Vitrinen zu lesen, die den Erzählern gewidmet sind. Ergänzt werden die gesprochenen und gedruckten Erinnerungen durch Fotos, Bilder, Bücher und Artefakte wie z.B. eine gerettete Zither und alter Weihnachtsschmuck.

Wichtiger Bestandteil der Ausstellung ist die Kommentar-Wand: Ehemalige Ankömmlinge und auch damals Aufnehmende sind aufgefordert, hier ihre Erinnerungen und Erfahrungen mitzuteilen. Denn im Zuge der Ausstellung will das Stadtmuseum unter Leitung von Ute Perlitz weitere Lebensgeschichten sammeln und Menschen treffen, die ihre Erfahrung mit Flucht und Vertreibung erzählen möchten. Dies dient auch der weiteren Ausgestaltung des dem Stadtmuseum seit 1953 angegliederten "Heimatmuseum Freudenthal".

 „Erinnerungscafé“ mit der Kuratorin Ursula Winkler im Stadtmuseum

Zusätzlich zur Kommentar-Wand in der Ausstellung lädt die Kuratorin Ursula Winkler alle Interessierten am 8. September und 20. Oktober, jeweils 14 bis 16 Uhr, zu einem Erinnerungscafé im Stadtmuseum Memmingen.

Das Konzept zur Ausstellung erarbeitete Ursula Winkler, Volkskundlerin aus Kempten.

Info: „Ankommen in der neuen Heimat“ ist eines der zwölf Teilprojekte von „Zeitmaschine Freiheit“, dem zweijährigen Projekt zur Initiierung neuer Partnerschaften für das Stadtmuseum Memmingen, gefördert durch den Fonds „Stadtgefährten“ der Kulturstiftung des Bundes. Ein besonderer Hinweis gilt dem aktuellen Bezug des Projekts: „Die Zeitmaschine beschäftigt sich mit dem Thema Flucht und zwar mit der von heute“.

Das Konzept zur Ausstellung erarbeitete Ursula Winkler, Volkskundlerin aus Kempten. Projektleiterin von "Zeitmaschine Freiheit" ist Regina Gropper.

Die Ausstellung ist bis 29. Oktober 2017 Dienstag bis Samstag von 10 bis 12 Uhr und 14 bis 16 Uhr, an Sonn- und Feiertagen von 10 bis 16 Uhr im Stadtmuseum im Hermansbau zu sehen.

Die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die in der Ausstellung „Ankommen in der neuen Heimat“ zu Wort kommen, sind:

Frida Güttler, geborene Lassnitschka, Memmingen, Jahrgang 1923, aus Römerstadt (Rýmarov), Kreis Freudenthal (Bruntál),

Edmund Güttler, Memmingen, Jahrgang 1948, Eltern aus Römerstadt (Rýmarov), Kreis Freudenthal (Bruntál),

Sigrid Baur, geborene Schindler, Memmingen, Jahrgang 1945, aus Klein-Mohrau (Malá Morávka), Kreis Freuenthal (Bruntál),

Gerlinde Koppitz, geborene Gerstberger, Schwaighausen, Jahrgang 1929, aus Karlsthal (Karlovice ve Slezsku), Kreis Freudenthal (Bruntál),

Anna Twerdy, Memmingen, Jahrgang 1997, Großeltern aus Marienbad (Mariánské Lázne),

Christine Wohowsky, geborene Bartel, Amendingen, Jahrgang 1939, Eltern aus Eckersdorf (Jakartovice), Kreis Freudenthal (Bruntál).

Meinhard Schütterle, Memmingen, Jahrgang 1944, Mutter aus Weißkirch (Kostelec) bei Jägerndorf (Krnov),

Rudolf Blaschke, Memmingen, Jahrgang 1935, aus Neutitschein (Norý Jicín),

Walter Just, Benningen, Jahrgang 1942, aus Zattig (Sádek).

Dr. Ortfried Kotzian, Augsburg, Jahrgang 1948, Eltern aus Pommerndorf bei Hohenelbe (Strazne / Vrchlabi) ,

Josef Miller, MdL a.D., Staatsminister a.D., Jahrgang 1947, aus Oberschöneberg, Landkreis Augsburg,

Gerhard Pohl, Memmingen, Jahrgang 1946, Eltern aus Freiwaldau (Jeseník) .

Unser Vorschaubild: Interessierte Besucher bei Eröffnung der Ausstellung „Ankommen in der neuen Heimat. Zwölf Zeitberichte“ im Stadtmuseum.