"Stark eingeschränkter Lebensraum": OB-Kandidaten erfahren Memmingens Innenstadt aus der Perspektive Behinderter

veröffentlicht am 30.08.2016

Die Oberbürgermeister-Kandidaten Gottfried Voigt (FW), Christoph Maier (AfD), Markus Kennerknecht (SPD) und Dr. Robert Aures (CSU), umrahmt von der Vorsitzenden des Behindertenbeirates Verena Gotzes (links) und Heidi Dintel. Fotos: Sonnleitner

Memmingen (dl). Wie behindertenfreundlich ist Memmingens Innenstadt? Dies erprobten die vier Oberbürgermeister-Kandidaten Gottfried Voigt (FW), Christoph Maier (AfD), Markus Kennerknecht (SPD) und Dr. Robert Aures (CSU) auf Einladung des Behindertenbeirats. Ziel des Ausflugs war, das künftige Stadtoberhaupt auf die Belange behinderter Menschen in Memmingen aufmerksam zu machen. Sichtlich beeindruckt, sicherten alle vier Kandidaten den Behindertenvertretern bei der abschließenden Versammlung im Antonierhaus ggf. ihre  Unterstützung zu.

"Wer will was ausprobieren?", fragte Verena Gotzes, Vorsitzende des Behindertenbeirats, in die Runde. Die vier Oberbürgermeister-Kandidaten griffen beherzt zu. Zur Auswahl standen verschiedene Rollstuhlmodelle, dunkle Brillen, die gravierende  Augenerkrankungen simulierten, und lange Stöcke, mit denen Blinde und Sehbehinderte ihren Weg ertasten.

Im Rollstuhl Richtung Hallhof unterwegs: Dr. Robert Aures und Christoph Maier lassen sich schieben.

Der Spaziergang, der unter derart erschwerten Bedingungen zurückgelegt wurde, begann vor dem Sanitätshauszelt in der Kalchstraße, führte durch die Fußgängerzone und schließlich über Hallhof und Marktplatz zum Antonierhaus.

Unterwegs machten Verena Gotzes und Heidi Dintel die Medienvertreter auf Barrieren aufmerksam, vergaßen aber auch nicht, die positiven Veränderungen zu benennen, die seit Gründung der Behindertenkontaktgruppe 1984 von der Stadt Memmingen umgesetzt wurden.

"Katastrophales Pflaster"

"Das Schlimmste war, nichts zu sehen", meinte Gottfried Voigt abschließend.

Als „katastrophal“ für alle, die mit Rollstuhl oder Rollator unterwegs sind, bezeichnete Heidi Dintel das Pflaster des Hallhofes. Hier sei es schwierig, voranzukommen. In den Spalten könne man zudem hängenbleiben und schlimmstenfalls kippen.

Die Kandidaten gerieten indes ins Schwitzen bei dem abwechselnden Versuch, sich ihren Weg zu ertasten oder holprige Bodenbeläge mit dem Rollstuhl zu überwinden. „Auch mit einem bequemeren Modell ruckelt das ganz ordentlich“, konstatierte Dr. Robert Aures.

Eine im Grunde positive Errungenschaft ist das Blindenleitsystem in der sanierten Fußgängerzone. Doch auch hier muss noch nachgearbeitet werden, was die Verbindungen des Führungsstreifens betrifft.  „Wenn man‘s nicht weiß, findet man die Rillen nicht“, bemerkte Christoph Maier.

"Wichtige Ämter ins Welfenhaus verlegen"

Markus Kennerknecht (hier mit Regina Sproll, stellv. Vorsitzende der Behindertenkontaktgruppe) bahnt sich seinen Weg durch die Fußgängerzone. Die Regenrinne dient gleichzeitig als Blindenleitsystem. An abzweigenden Seitenstraßen enden die Rillen jedoch, hier wurden Verbindungen in das Pflaster geschweißt, die jedoch schwierig zu ertasten sind.

Ein unüberwindliches Hindernis für Bürger im Rollstuhl sind die Treppen am Eingang und im Inneren des Großzunft-Gebäudes, also vor dem Einwohnermeldeamt. Der Beirat schlägt darum vor, wichtige Ämter wie dieses ins Welfenhaus zu verlegen.

Das „gemeinste Pflaster“ befindet sich ausgerechnet im Innenhof des Antonierhauses -  mit Bibliothek, Museum und Café eine der frequentierten Einrichtungen der Stadt. Hier versammelten sich alle Teilnehmer des Stadtspaziergangs zu einem abschließenden Gespräch.

"Die Leute schauen über einen hinweg"

Der Zugang zum Einwohnermeldeamt ist für Rollstuhlfahrer nicht ohne Hilfe zu meistern.

„Nicht zu sehen, was man vor sich hat, macht Angst und verunsichert“, beschrieb Gottfried Voigt, der u.a. eine Diabetiker- Simulationsbrille mit schwarzen Flecken trug, seine Erfahrung. „Dadurch wird die Welt unglaublich trostlos.“

„Ich werde normalerweise von vielen Menschen in der Fußgängerzone angesprochen, doch kaum sitzt man im Rollstuhl, schauen die Leute über einen hinweg“, bemerkte Dr. Aures erschrocken.

 Als Stadtbaumeister habe er bisher bei der Wahl des Untergrundes auf Vorschriften und Empfehlungen geachtet.  „Sinnvoller ist es jedoch, mit den Betroffenen zu reden, das weiß ich jetzt“ so Markus Kennerknecht. Bei großen Bauvorhaben müsse man von städtischer Seite mehr auf die Bodenbeläge achten.

Er habe sich als Sehbehinderter in der Fußgängerzone ziemlich hilflos gefühlt, bemerkte Christoph Maier. "Ich werde in Zukunft aufmerksamer durch die Stadt laufen, bewusster durchs Leben gehen und hilfsbereiter sein“, lautet sein Vorsatz.

"Stark eingeschränkter Lebensraum"

Hilfreich, aber kaum bekannt: Das Haustelefon im Eingangsbereich des Rathauses. Dort sind die Telefonnummern der Ämter verzeichnet, die man anrufen kann, wenn einem der "normale" Zugang versperrt ist.

Die Kandidaten bedankten sich beim Behindertenbeirat für die wertvolle Erfahrung. Sie hätten nun am eigenen Leib erfahren,  wie klein der Lebensraum für behinderte Menschen auch in Memmingen sei und könnten die schweren Probleme, die sich im Alltag aus der Behinderung ergeben, zumindest ansatzweise, nachvollziehen.

„Inklusion geht uns alle an“, war das Fazit der Veranstaltung. Denn Behinderung kann jeden betreffen und gerade in einer alternden Gesellschaft ist Barrierefreiheit ein immens wichtiges Thema.

Informationen zur Arbeit des Behindertenbeirats gibt es hier: Behindertenbeirat