“We want out”: Warum sich die Briten gegen die EU entschieden haben

veröffentlicht am 01.07.2016

Der ehemalige Lokale-Redaktionsleiter Elmar Würth lebt jetzt in London und schickte uns einen Kommentar zum EU-Austritt der Briten. Foto: privat

London (ew). Die Briten haben sich nun tatsächlich entschieden, die EU zu verlassen. Unser ehemaliger Redaktionsleiter Elmar Würth lebt und arbeitet seit Jahren in London. Hier sein Insider-Kommentar zum Brexit:

Um die Entscheidung zum EU-Austritt halbwegs verstehen zu wollen, muss man zuerst den geschichtlichen Hintergrund und das darauf beruhende politische Verständnis der britischen Bevölkerung betrachten.

Jahrhunderte lang kolonialisierte Großbritannien die Welt, war die führende Weltmacht bis ins letzte Jahrhundert. Viele Engländer haben aber sichtbar ein Problem damit zu akzeptieren, dass England nicht mehr diese Großmacht von damals ist.

Auch die jüngere Geschichte ist ausschlaggebend für das politische Verständnis der Briten. Fast jeden Tag flimmert Adolf Hitler in irgendeinem britischen Fernsehprogramm über den Bildschirm und der “Sieg über die Nazis” wird ausgiebig glorifiziert.

Vor diesem Hintergrund ist es für den patriotischen Briten natürlich unglaublich schwer zu akzeptieren, dass man nach diesem Triumpf wirtschaftlich von Deutschland überholt worden ist und jetzt nur noch eine untergeordnete Rolle in der Gemeinschaft spielt.

"Patriotismus war massiv wahlentscheidend"

Dieser Patriotismus, der massiv wahlentscheidend war, ist für uns Nachkriegsdeutsche nur sehr schwer zu verstehen. Deutschland hat ein Schuldbewusstsein, weil es zwei unsägliche Kriege angefangen und verloren hatte. Dieses Bewusstsein fehlt dem britischen Geschichtsverständnis komplett. Es funktioniert vielmehr nach dem Motto: „Wir haben zwar auch viele Kriege auf der ganzen Welt angefangen, aber wir sind stolz auf alle die wir gewonnen haben.“

Ein weiteres wahlentscheidendes Problem ist der  wirklich sehr hohe Anteil an Ausländern im Land. Laut letztem Zensus bezeichnen sich nur noch 40 Prozent der Londoner Bevölkerung als “weiße Briten”. Zwar sind die meisten Ausländer wegen des Commonwealth schon seit Ewigkeiten im Land und auch die meisten Zuwanderer kommen aus den ehemaligen Kolonien. Trotzdem geben die britischen Rechtspopulisten unverfroren der EU die Schuld an den negativen Auswirkungen ihrer eigenen Geschichte.

EU als Sündenbock

Die tatsächlich signifikant ansteigende Zahl an polnischen Zuwanderern in den letzten Jahren spielt den EU-Gegner natürlich auch in die Hände. Obwohl Großbritannien nur 15.000 Kriegsflüchtlinge aufnimmt, verbreitet die rechtspopulistische UKIP-Partei Panik mit Bildern von Flüchtlingsströmen aus Syrien und sagt irrsinnige Einwanderungsströme voraus, falls man in der EU bliebe.

Neben dieser Propaganda und der Angst vor Ausländern ist der Wahlausgang aber auch ein wenig dem Klassenkampf geschuldet. Die Klassenunterschiede sind auf der Insel immer noch bedeutend ausgeprägter als hierzulande. Die Europäische Union wird von vielen als ein von der Oberschicht geschaffenes Monster, welches die Arbeiterklasse unterdrückt, angesehen. Als Grundpfeiler für jahrzehntelangen Wohlstand und Frieden wird die EU einfach nicht wahrgenommen.

Die Macht der Medien

Einen richtig großen Anteil am Sieg der Nationalisten haben aber auch die meinungsmachenden Medien auf der Insel. Das Boulevardblatt Sun (englisches Synonym zur Bild) hat sich von Anfang an massiv für den Brexit ausgesprochen. Schon im März titelte man dort “Queen backs Brexit” (Die Königin steht hinter dem Brexit), obwohl das so gar nicht stimmte. Am Dienstag, 14. Juni, titelte die Sun “BeLEAVE in Britain” und forderte in ihrem Leitartikel unmissverständlich zum Brexit auf. Ein weiteres Beispiel ist die Daily Mail. Sie titelte einen Tag vor dem Referendum mit der klaren Aussage: “If you beliefe in Britain, vote Leave” (Wenn du an Britannien glaubst, wähle Austreten).

Doch damit nicht genug. Für den größten Zündstoff sorgte die Brexit-Medienkampagne von Boris Johnson, ehemaliger Bürgermeister von London: “Steckt die 350 Millionen Pfund, welche die EU uns jede Woche nimmt, besser in unsere Gesundheitsversorgung”. Dabei muss man bedenken, dass das britische Gesundheitssystem schon seit Jahren unter notorischem Geldmangel leidet und die Versorgung von Jahr zu Jahr schlechter wird. Nigel Farrange, Führer der UKIP-Partei (vergleichbar mit der AfD), gestand aber schon am Morgen nach dem Referendum ein, dass diese Kampagne ein Fehler war und wohl kein zusätzliches Geld ins britische Gesundheitssystem fließen werde.

Nun, da die erste Wahllüge aufgedeckt ist, bekommen die Leave-Wähler kalte Füße, was da noch kommen könnte. Eher linkslastige Blätter wie der Daily Mirror versuchten zwar mühselig, dem Brexit entgegenzuwirken, waren Murdochs Mediendominanz aber einfach nicht gewachsen. So betrachtet bekommt das Wort “Lügenpresse” hier ganz neue Relevanz.