„Dürfen wir sagen, was wir wollen …

… oder müssen wir äußern, was andere erwarten?“

veröffentlicht am 14.04.2024

Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof, Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts a.D., referierte zum Thema Meinungsfreiheit in Deutschland. Bildschirmfoto: Svenja Gropper

München (sg). Meinungsfreiheit und eine tolerante, respektvolle Kommunikation in der Gesellschaft sowie auch in sozialen Medien – wie steht es damit in Deutschland? Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof, Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts a.D., hat bei einem kurzweiligen, gut besuchten Vortrag des Wirtschaftsbeirats Bayern Antworten gegeben auf die Frage „Dürfen wir sagen, was wir wollen oder müssen wir äußern, was andere erwarten?“.

Schon das Grundgesetz legt in Artikel 5 fest: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.“ Meinungsfreiheit sei notwendig für die Demokratie, den Staat und die Gesellschaft, betont Kirchhof.

Laut einer Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach und Media Tenor International im vergangenen Jahr haben jedoch nur noch 40 Prozent der Deutschen das Gefühl, dass sie in Deutschland frei reden können (2017: 63 Prozent). Und 44 Prozent gaben an, dass es besser sei, bei der Meinungsäußerung vorsichtig zu sein (2017: 25 Prozent). Eine deutliche Veränderung zeichnet sich seit 2021 ab.

Selbstzensur der Gesellschaft

In den letzten 20 Jahren sei eine starke Veränderung der Gesprächskultur zu beobachten. „Da hilft auch kein Artikel 5 des Grundgesetzes“, erklärt Kirchhof. Die Gesellschaft sieht er als die eigentliche Bedrohung für die Meinungsfreiheit und die Demokratie. Denn die Gesellschaft zensiere sich längst selbst: „Heute ideologisieren und politisieren wir alles“, sagt Kirchhof und spricht dabei von „Missionaren“ zu unterschiedlichsten Themen, deren Meinung als die einzig richtig angesehen wird.
Es fehle eine respektvolle, sachliche und argumentative Auseinandersetzung. „Ohne Kritiker gibt es auch keine Entwicklung“ betont er und führt Luther als prominentes Beispiel dafür an, dass unangenehme Tatsachen und Meinungsverschiedenheiten für Veränderungen sogar notwendig sind.

Nur ein Echo der eigenen Meinung

Insbesondere im Netz bekomme jeder eine Informations- und Meinungsmacht, die denen der Medien gleichkomme. Im Gegensatz zu klassischen Medien agieren die Nutzer dort jedoch in der Regel unprofessionell und ohne Faktencheck, erklärt Kirchhof. Es entstehe ein „Crescendo akkumulierter Meinungen“, sogenannte „Echokammern“ - denn jeder suche sich die Bestätigung seiner eigenen Sichtweise. Was Gefahren birgt - nicht zuletzt sogenannte „Shitstorms“, die sogar Existenzen zerstören können.
Kirchhof appelliert an jeden einzelnen, respektvoller miteinander umzugehen und hofft zudem rechtlich auf internationale Regelungen, denn die Betreiber der sozialen Medien liegen oft außerhalb der deutschen Rechtsprechung.