
Memmingen (as). Kräftigen Applaus spendete das ergriffene Premierenpublikum im Großen Haus des Memminger Stadttheaters den engagierten Darstellern des Dokudramas "Das Tagebuch der Anne Frank". Regisseur Frank Lewandowski setzte das Stück behutsam und ebenso schlicht wie wirkungsvoll in Szene. Zeltförmige Holzbalken deuten das Versteck im Obergeschoss des Hinterhauses an, in dem die junge Jüdin Anne Frank mit ihrer Familie zwei Jahre lang von der Welt abgeschnitten lebte. Einfühlsam werden die Hoffnungen, Ängste, die Verzweiflung und die Sehnsüchte der insgesamt acht Menschen in ihrem Hinterhaus-Versteck gezeigt - ein Versteck, das vielmehr ein Gefängnis darstellt.

Die 13-jährige Anne (anrührend verkörpert von Barbara Weiß) ist ein quirliges, fröhliches Kind. Doch jetzt muss sie stillhalten: Gemeinsam mit ihren Eltern, ihrer Schwester Margot (Sabrina Becker), dem Ehepaar van Daan (Lisa Rauen und Fred Strittmatter) und dem Zahnarzt Dussel (Jan Arne Looss) versteckt sie sich im Hinterhaus Prinsengracht 236 im Zentrum Amsterdams, um der Deportation und Ermordung durch die Nazis zu entgehen. Die Überlebensregeln dort sind ebenso schlicht wie unmenschlich: „Kein Husten, kein Fieber, kein Mucks“ – nicht einmal die Klospülung darf bis 18 Uhr abends betätigt werden.
Zwei Jahre lang, vom 12. Juni 1942 bis zum 4. August 1944, müssen es die acht Menschen, verdammt zu absoluter Hilflosigkeit und Passivität, auf engstem Raum und ohne Privatsphäre in diesem lautlosen, leblosen Vakuum des Hinterhauses miteinander und mit sich selbst aushalten, immer hoffend auf die Befreiung durch die Alliierten.
Oft liegen die Nerven blank in der Hinterhaus-"WG"

Schwebend zwischen Angst, Sorge und Hoffnung liegen die Nerven oft blank, immer wieder kommt es zu Konflikten in der unfreiwilligen Wohngemeinschaft. Annes Vater Otto (Fridtjof Stolzenwald) muss immer wieder die Wogen glätten. Sogar die beherzte Anne beginnt sich vor der Stille zu fürchten, die ab und zu durch Schüsse und Schreie von draußen unterbrochen wird. Ihr engster Freund ist ihr Tagebuch (heute Weltdokumentenerbe), dem sie all ihre Gedanken, Sorgen, Hoffnungen und Wünsche anvertraut. So verarbeitet die pubertierende Anne auch die Konflikte mit ihren Mitbewohnern, insbesondere mit der verständnislosen Mutter (kaum wiederzuerkennen: Anke Fonferek als spießige Hausfrau mit Kartoffelschälesser und Wasserwelle).
Für Anne ist es die Zeit des Frühlingserwachens, vom noch recht naiven Kind im ersten Teil des Stücks reift sie zu einer sinnlichen jungen Frau heran, nennt ihre einsetzende Periode ihr "süßes Geheimnis" und verliebt sich in ihren "Mitbewohner" Peter van Daan (Christian Müller).
Hin und wieder tritt Barbara Weiß aus ihrer Rolle heraus und übernimmt den Part der Erzählerin, während die anderen Protagonisten so lange "eingefroren" werden - ein Wachsfigurenkabinett.
Schreiben, um nicht zu ersticken
Die Zeit steht still, doch man ist froh um alles, was nicht geschieht, denn "draußen" wird es von Tag zu Tag gefährlicher. "Man kann niemandem mehr vertrauen" - selbst die "Lichtbringer" in Gestalt der nichtjüdische Helferin Miep Gies (Michaela Fent) und Herr Kraler (Peter Höschler) haben immer weniger Hoffnungsvolles zu berichten. Anne schreibt. Sie würde sonst ersticken, meint sie - und glaubt immer noch, dass alle Menschen tief im Herzen gut sind.
Es ist äußerst beklemmend, diesen Menschen mit ihren Hoffnungen und Sehnsüchten zuzusehen und aus der historischen Distanz zu wissen, dass sie auf den Tod warten. Die Tragik ist dem Geschehen bzw. Nicht-Geschehen also immanent. Lewandowski begnügt sich damit, die Geschichte ohne große inszenatorische Zutaten und dramatische Kniffe zu erzählen und tut gut daran – alles andere würde irgendwie respektlos erscheinen.
Verschärft wird diese Tragik noch durch die Person der Anne, durch ihr fröhliches, argloses Naturell, ihre Lebensfreude und ihren ungebrochenen Optimismus. So viel Leben im allerbesten Sinne, das erst im Keim erstickt und dann vernichtet wird, begraben in einem anonymen Massengrab - das ist wirklich kaum zu ertragen.
Lewandowski vermeidet drastische Elemente
Umso dankbarer nimmt der Zuschauer auf, dass Rainer Lewandowski keine Nazi-Schergen mit schweren Militärstiefeln durch das Treppenhaus trampeln lässt - es bleibt dem Zuschauer erspart, mit ansehen zu müssen, wie Anne und ihre Familie abgeholt werden, nachdem sie von einem Unbekannten verraten wurden. Stattdessen tritt Barbara Weiß wieder in die Rolle der Erzählerin und referiert sachlich das Ende der Geschichte: Am 3. September 1944 wurden Tausende Juden in Viehwaggons verladen - der letzte Transport zu den Vernichtungslagern Auschwitz und Birkenau. Im März 1945 sterben Margot und Anne in Bergen-Belsen an Typhus.
Die gute Miep hat ihr Tagebuch aufgehoben. Otto Frank, einzig Überlebender der Tragödie, wird später einen Verleger dafür finden und erfüllt so den Wunsch seiner Tochter, Schriftstellerin zu werden, posthum. Anne Frank, deren Tagebuch in 70 Sprachen übersetzt und 20 Millionen mal verkauft wurde, ist zum Symbol für 6 Millionen ermordete Juden der Nazizeit geworden. Seit Jahrzehnten steht das Dokument auf den Lehrplänen, um Jugendlichen in Annas Alter ihre Geschichte nahe zu bringen.
Info: Für ihr 1955 in New York uraufgeführtes Dokudrama wurden die amerikanischen Drehbuchautoren Frances Goodrich und Albert Hackett u.a. mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet.
Weitere Vorstellungen des sehr empfehlenswerten Stückes am 30. Oktober sowie am 2., 4., 5. und 22. November im Stadttheater. Kartenreservierung unter Telefon 08331/9459-16. Eine Einführung gibt es 30 Minuten vor Vorstellungsbeginn auf der CaféhausBühne.