
Memmingen (as). Angst, die in Wut Hass umschlägt und sich in Gewalt entlädt: Als das Psychodrama des britischen Autors Dennis Kelly 2009 uraufgeführt wurde, ahnte noch niemand, wie erschreckend aktuell sein Stück 2015 in Deutschland sein würde. „Waisen“ spielt am Esstisch eines gutbürgerliches Hauses - inmitten eines sozialen Brennpunktes mit hohem Migrationsanteil. Das Drama macht deutlich, was passieren kann, wenn "Araber" oder "Muslim" unterschiedslos zum Synonym für Extremismus und Terror wird.
Danny und Helen feiern ihr trautes Glück und Helens Schwangerschaft beim Candlelight-Dinner, als Helens Bruder Liam (Jan-Arne Looss) totenbleich und blutverschmiert hereinplatzt und den beiden, gehetzt mit wilder Panik im Blick, eine Lügengeschichte auftischt. Er sei einem Jugendlichen zu Hilfe geeilt, der auf offener Straße angegriffen und ernsthaft verletzt wurde.
Der anständige und moralisch integre Danny (Christian Müller) fühlt sich verantwortlich, traut sich aber nicht, raus zu gehen, um dem Opfer zu helfen - wurde er doch selbst von „Arabern“ attackiert. Doch die Polizei will er rufen, was Helen (Josephine Bönsch) jedoch mit aller Macht zu verhindern sucht. Denn Liam - labil, beeinflussbar und voller Scham und Minderwertigkeitsgefühle - ist vorbestraft und niemand würde ihm glauben. Um den Bruder zu schützen, schreckt die sprunghafte, dominante und manipulative Helen vor nichts zurück. Sie erpresst ihren Mann sogar mit dem Leben ihres ungeborenen Kindes.

Der Zuschauer erfährt, dass Helen und Liam Waisenkinder sind und dass die zwei Jahre ältere Helen viel geopfert hat, um ihren lebensuntüchtigen, um Liebe bettelnden Bruder, der sie als Engel verehrt, beschützen zu können.
„Meine Menschen“ und „die da draußen“
Helen unterteilt ihre Umwelt in zwei Kategorien: „Meine Menschen“ und „die da draußen“. Letztere sind ihr gleichgültig. "Da draußen gibt es kein Gesetz, wir sind auf uns selbst gestellt", erklärte Liam seinem scheinbar weltfremden Schwager. "Rausgehen ist wie in eine weiche Wand aus Scheiße zu laufen." Ein Überlebenskampf, der in der Frage mündet: „Die oder wir?" Auch Helen verlässt nur ungern den Schutz ihres Heimes aus Angst vor sexistischen Anfeindungen.
Liam neigte schon früh zur Gewalt, und verstrickt sich auch jetzt auf die Nachfragen Dannys hin immer mehr in Widersprüche. Zum Entsetzen von Schwester und Schwager (und der Zuschauer) stellt sich heraus, dass der zornige Loser Liam in einem Anfall von Jähzorn einen harmlosen arabischen Familienvater auf dem Heimweg niedergeschlagen, mit einem Messer traktiert und in den Schuppen seines rassistischen Freundes Ian geschleift hat. Auf Panik, Verzweiflung und Ratlosigkeit folgt Pragmatismus: Helen und Danny beraten, was zu tun ist, damit Liams unschuldiges Opfer nicht verrät, wer ihn gefoltert hat…
Wie weit darf Loyalität gehen?

Mit atemloser Spannung verfolgen die Premierenzuschauer das Geschehen des Psychokrimis, das immer neue Wendungen nimmt und in einer Art Rollentausch mündet: Um Liam - auch im Wortsinne - reinzuwaschen, tauscht dieser sein blutiges Hemd gegen ein T-Shirt seines „Vorzeige-Schwagers“. Es zeigt die Mohammed-Karikatur, die nach dem Attentat auf dem Titelbild des französischen Satiremagazins Charlie Hebdo abgebildet war: „Tout est pardonné“ – alles ist vergeben, eine Versöhnungsgeste. Der einst verantwortungsvolle, differenziert denkende Danny hingegen wird aus Liebe zu Helen zum Aggressor und Peiniger. Und wirft damit die Frage auf: wie weit darf Loyalität gehen und darf man die, die einem nahe stehen, um jeden Preis schützen?
Wohl dosiert und bedeutungsvoll ist das Bühnenbild von Sabine Manteuffel, bestehend aus einer überlangen, schwarzen Tafel die durch ihre Neigung an einen Flügel erinnert. Darauf liegt ein mit Rosenblättern bestreuter Tischläufer, der wie ein weißer Pfad von Dannys zu Helens Platz führt. Die Entfernung zwischen den beiden deutet von vornherein auf eine gewisse Kühle und Entfremdung hin. Der Tisch wird zur Bühne für den Auftritt der Bruders - und entlarvt diesen als Störfaktor, der auch im räumlichen Sinne zwischen ihnen steht.
Überzeugende Darsteller
Dass die (Re-)Aktionen der Figuren nicht immer nachvollziehbar sind, deutet auf die Bruchstellen ihrer Persönlichkeiten hin. Angst und Schrecken verbreitet allein schon die von Anfang an heftige Lautstärke ihrer Diskussionen. Hier hätte Regisseur Peter Kesten eher auf Crescendo setzen sollen, um auf subtilerer Weise Spannung zu schüren. So wirkt auch manche Geste etwas überzogen und aufgesetzt (vor allem bei Helen). Doch letztendlich überzeugen die Darsteller und ziehen das Publikum in ihren Bann. Ein Theaterabend, der unter die Haut geht und lange nachwirkt.
Weitere Vorstellungen im Studio am 21., 26., 28. und 30. Januar sowie am 2., 4., 6., 13., 17., 18., 19. und 26. Februar. Kartenvorbestellungen unter Telefon 08331/ 9459- 16.