"Die sind uns näher, als uns lieb sein kann"

"Nebel im August" zeigt ein unliebsames Stück Heimat

veröffentlicht am 09.03.2018

Bei der Pressekonferenz im Stadttheater: Landestheater-Intendantin Dr. Kathrin Mädler, Bezirkstagsvizepräsident Alfons Weber und Dr. Stefan Raueiser, Leiter des Bildungswerks und -zentrums Irsee, sprechen über die regionale Relevanz der Uraufführung "Nebel im August". Foto: Sonnleitner

Memmingen/Irsee (as).  Die Suche nach dem Abgrund in uns allen ist ein Aspekt der Inszenierung von „Nebel im August“ nach der 2008 erschienenen Romanbiografie von Robert Domes, das am 16. März im Großen Haus als Dokumentarstück in Kooperation mit dem Bildungswerk Irsee uraufgeführt wird (wir berichteten).  Dieser Abgrund liegt auch räumlich sehr nahe, denn es geht um ein unliebsames Stück Heimat.

John von Düffels Dokumentarstück über den Euthanasie-Prozess, der am 2. August 1949 in Augsburg begann, ist ein Teil der schwäbischen Vergangenheit. Angeklagt ist der damalige Leiter der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren /Irsee. Um diese Bezüge zu erhellen und an ein bislang vernachlässigtes Thema der Nazizeit zu erinnern, lud das Landestheater Schwaben zu einer Pressekonferenz ein.

Bezirkstagsvizepräsident Alfons Weber, Dr. Stefan Raueiser, Leiter Bildungswerk und -zentrum Irsee, und Landestheater-Intendantin und Regisseurin Dr. Katrin Mädler stellten die Produktion und das Begleitprogramm vor.

Lossa als Symbolfigur für alle ermordeten Kinder

Als ein „Theaterstück zum Gedenken und Erinnern“ bezeichnete Alfons Weber die bevorstehende Inszenierung. Es gehe dabei weniger um die Lebensgeschichte des jenischen Ernst Lossa, die im Film und im Roman im Mittelpunkt steht. Vielmehr wird dieser zur Symbolfigur für alle ermordeten Kinder im Zuge der Vernichtung „unwerten Lebens“ zur Zeit der nationalsozialistischen Euthanasie.

Der Bezirk Schwaben, zuständig für die Kulturgeschichte Schwabens und für die Versorgung psychisch kranker Menschen und außerdem Träger des Klosters Irsee, sei in mehrfacher Hinsicht verpflichtet, an die Verletzlichkeit des Lebens und die Menschenverachtung im Nationalsozialismus zu erinnern, so Alfons Weber.

„Zur Tötung statt zur Heilung missbraucht“

Der humanistischen Gründungsidee zum Trotz sei die Abteilung der Heil- und Pflegeanstalt Irsee zur Tötung statt zur Heilung missbraucht worden. Ein Denkmal vor der Fassade sowie Stolpersteine zeugten von diesem dunklen Kapitel der Geschichte. „Aufgabe des Dokumentarstückes ist es, Ernst Lossa - stellvertretend für 2.000 Tote -  seine Würde zurückzugeben“, erklärt Bezirkstagsvizepräsident Weber.

„Textlandschaft aus Tätertexten“

„Das Stück ist  dokumentarischer als der Roman und der Spielfilm von 2016“, erläuterte Intendantin Dr. Kathrin Mädler. Es entstand auf Grundlage der Prozessakten von 1949 und umfangreicher Recherchen des Autors. Mädler beschrieb das Stück als „Textlandschaft aus Tätertexten, an denen sechs Schauspieler sich, stellvertretend für uns alle, abarbeiten. John von Düffels Text gibt den Tätern das Wort, die vor dem Forum der Gesellschaft sprechen. Die Zuschauer sind quasi die Geschworenen“, erklärt die Intendantin.

Zentrale Aspekte ihrer  Inszenierung  seien die Erinnerung an die Ungeheuerlichkeit der Katastrophe des 20. Jahrhunderts“, denn: “Theater ist immer auch ein Besuch bei den Toten“, so Kathrin Mädler. Umso wichtiger sei dies, „da wir in einer Zeit des Umbruchs leben, in der die letzten Zeitzeugen sterben“. Man könne eine gefährliche Tendenz zur Geschichtsvergessenheit in der Gesellschaft konstatieren, der auch das Theater begegnen müsse. “Wir haben noch nicht annähernd begriffen, was damals geschehen ist.“

Die Angst vor dem Fremden

„Was ist es in uns Menschen, dass diese Unmenschlichkeit immer wieder möglich macht“, fragt  die Intendantin. "Leider waren die damaligen Täter ja keine Monster, die sind uns näher als uns lieb sein kann" - und: „Wer maßt sich an, zu entscheiden, was und wer unsere Gesellschaft ausmachen soll?“, hinterfragt sie den Wunsch zur Festlegung einer Norm (Stichwort „Leitkultur“, Anm. der Red.). Durch die Tätertexte könne man dem Ausgrenzungsmechanismen der Gesellschaft nachspüren, denn letztlich frage das Stück auch nach der Angst vor dem Fremden, dem Vielfältigen und Unangepassten.

„Ich bin total gespannt“

„Gern haben wir die tolle Möglichkeit ergriffen, diese andere Form der Auseinandersetzung mit der Historie im Landestheater Schwaben zu begleiten“, sagt Bildungswerk-Leiter Dr.  Stefan Raueiser. Irsee als Zweigstelle der Heilanstalt in Kaufbeuren habe eine 123-jährige Psychiatriegeschichte hinter sich.  „Ich bin total gespannt“, bekennt Raueiser. Große Freude bereite das Projekt auch der noch labenden Schwester von Ernst Lossa, dessen einzige „Störung“ seine  jenische Abstammung war.

Ebenso wie Autor Robert Domes nimmt Dr. Raueiser  als Vertreter des Tagungs- und Bildungszentrums Kloster Irsee an den Publikumsgesprächen teil, die  am Sonntag, 15. April, um 17 Uhr vor und auch nach der Aufführung stattfinden. Dr. Raueiser wird über die lokale Geschichte der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren/Irsee informieren.

"Nachgespräch spezial" und Theaterseminar

Ein „Nachgespräch spezial“ mit dem preisgekrönten Dramatiker und Autor der Bühnenfassung von „Nebel im August“ John von Düffel , Regisseurin Dr. Katrin Mädler und Mitgliedern des Ensembles findet im Anschluss an die Vorstellung vom 20. April auf der Foyerbühne statt. 

Das Bildungswerk Irsee bietet außerdem gemeinsam mit dem Landestheater Schwaben ein Theaterseminar am 20. und 21. April an. Das Seminar beginnt am Freitagnachmittag mit einführenden historischen Informationen in Kloster Irsee, am Abend folgt ein Aufführungsbesuch in Memmingen. Am nächsten Vormittag schließt sich ein Theater-Gespräch mit der Intendantin und mit Schauspielern in Irsee an.

Näheres dazu gibt es im Internet unter www. bildungswerk-irsee.de. Anmeldung und Information beim Bildungswerk Irsee, Klosterring 4, Telefon 08341/ 906-608 oder -604 E-Mail: info@bildungswerk-irsee.de.