„Die Krise war ein Crashtest für die Gesellschaft“

Klaus Holetschek über die Lehre aus der Corona-Pandemie

veröffentlicht am 22.06.2020

Klaus Holetschek, Memminger Landtagsabgeordneter und Staatssekretär im Bayerischen Staatsministerium für Wohnen, Bau und Verkehr, im Gespräch mit der Lokalen. Foto: Sonnleitner

(as). Wie funktioniert das politische System in der Krise? Was lernen wir aus Corona? Wie sieht das Gesundheitssystem der Zukunft aus? – Über diese und viele weitere Fragen sprach die Lokale mit dem Memminger Landtagsabgeordneten und Staatssekretär im Bayerischen Staatsministerium für Wohnen, Bau und Verkehr, Klaus Holetschek.

Herr Holetschek, wie kommen die Corona-Verordnungen in Bayern zustande? Wer berät, wer entscheidet, wie wird das Kabinett mit einbezogen?

Das Kabinett und der Ministerpräsident bekommen von Seiten der Virologen und des Landeamtes für Gesundheit eine Einschätzung der Lage, was die Anzahl der Infizierten und den Reproduktionsfaktor angeht. Aufgrund dieser Faktenlage werden Entscheidungen für ggf. notwendige Beschränkungen oder Lockerungen, stufenweise im Zweiwochen-Rhythmus, getroffen.

In Bayern waren die Verordnungen ja stets länger und strenger …

Ja, Umsicht und Vorsicht waren und sind immer noch oberstes Gebot, da es in Bayern mehr Infektionen gab als in anderen Bundesländern. Ein Worst-Case Szenario besagt, dass drei Millionen Menschen hätten sterben können. Wir haben das alle gemeinsam miteinander verantwortlich hinbekommen, aber der Einstieg war wesentlich leichter als der Ausstieg.

Wird über Vorschläge wie z. B. die Maskenpflicht im Supermarkt im Kabinett abgestimmt oder beraten?

Im Kabinett hat man bestimmte Vorlagen aus den einzelnen Ministerien. Auf Grundlage einer Ministerratsvorlage, die zum Beispiel besagt, dass Freibäder unter bestimmten Bedingungen aufmachen können, wird dann abgestimmt und entschieden. Entscheidungsgrundlage sind natürlich auch die Empfehlungen aus der Medizin. Neben der Kabinettssitzung gibt es noch andere Gremien wie den Katastrophenstab, der immer wieder über die Lage berichtete: Wieviel Betten haben wir, wieviel Beatmungsgeräte, wie ist die Lage vor Ort usw.. Auch die Einschätzung der BürgerInnen spielt hinein, es gab ja zum Beispiel Gerichtsurteile wegen der 800-Quadratmeter Regelung – aus dieser Gemengelage heraus werden dann Entscheidungen getroffen und es entwickelt sich ein System in der Krise.

Warum gibt es keine bundesweite Regelung mit der Möglichkeit, regional wie lokal in bestimmtem Rahmen zu reagieren?

In den Telefonschalten der Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten der Bundesländer wurde der Lockdown anfangs sehr einmütig verhandelt, doch je länger die Krise währte, desto unterschiedlicher waren die Betroffenheiten. In Bayern spielt die Nähe zu Österreich und Italien eine Rolle, Mecklenburg-Vorpommern z. B. hat ganz andere Prioritäten, also war auch die Beurteilung der Lage eine andere. In einem föderalen System muss man akzeptieren, dass jedes Land nach seiner Situationseinschätzung handelt. Doch die Einheitlichkeit am Anfang war eine wichtige Botschaft für die Menschen, ebenso wie die Fernsehansprache der Kanzlerin, die gezeigt hat, wie einschneidend die Krise ist. Insgesamt ist das Vertrauen in die Politik eher gewachsen, wie Umfragen gezeigt haben.

Vielen Bürgern gingen die Lockerungen viel zu langsam, war die Staatsregierung etwas übervorsichtig?

Viele waren auch der Meinung, dass die Lockerungen zu schnell kommen. Aber wer selbst nicht betroffen war und niemanden kannte, der Corona hatte, denkt ganz anders darüber. Im Kern geht es um die Abwägung verschiedener Interessen – größtmögliche Freiheit oder Schutz der Gesundheit von Menschen aller Altersklassen. Die Triage in den Krankenhäusern ist eine sehr abschreckende Vorstellung. Wir wollen niemanden in den Tod begleiten, weil wir ihm kein Beatmungsgerät mehr zur Verfügung stellen können.

Diese Risikoabwägung ist eine Gratwanderung, denn hier geht es ja auch um die Würde hochbetagter Menschen, die das Risiko eventuell auf sich nähmen, weil sie ihre Kinder gern sehen möchten. Könnte man hier nicht eine Ausnahme machen?

Das ist ein schmerzhaftes Thema – wobei es ja Ausnahmen bei der Besuchsregelung für Palliativpatienten gibt. Die Psyche spielt bei kranken und alten Menschen, die allein zuhause sind, eine wesentliche Rolle. Das zeigt, wie wichtig soziale Beziehungen, Nähe und Umarmungen sind. Doch die Politik muss die Verantwortung tragen und wir haben immer wieder hinterfragt, ob die Maßnahmen, die wir treffen, noch verhältnismäßig sind.

Für mich wichtig ist die Frage: Was lernen wir aus Corona, auch für eventuelle künftige Pandemien? Kann man baulich Räume schaffen in denen man sich trotzdem begegnen kann? Wie wirkt die Erfahrung von Home Office, Videokonferenzen und Telefonschalten in den letzten Monaten sich auf die Flexibilisierung der Arbeitswelt aus? Werden wir weniger Geschäftsreisen brauchen? Was heißt das für die Mobilität insgesamt? – Die Krise hat sehr viele Fragen aufgeworfen. Wir müssen jetzt schauen, was gut und was schlecht gelaufen ist und Schlussfolgerungen daraus ziehen. Ich hielte es für fatal, zu sagen „Business als usual“. Die Krise war ein Crashtest für die Gesellschaft und warf auch die Frage nach unseren Werten auf. „Schneller, höher, weiter“ und „Immer mehr für mich selbst“ ist kein Konzept, das auf Dauer funktioniert.

Ein Crashtest, was Altruismus und Verantwortungsgefühl betrifft?

Ja, Covid 19 bedeutete auch, Verantwortung für andere zu übernehmen. Die Corona-Prophylaxe warf die Frage auf: Wie gehe ich mit anderen um, bin ich bereit, mich selbst einzuschränken, indem ich eine Maske trage, um andere zu schützen?

Wir müssen ja davon ausgehen, dass dies nicht die letzte Pandemie war. Was ist, wenn es SARS 5 oder Covid 20 gibt? Wir können ja nicht jedes Jahr die Wirtschaft und das Leben herunterfahren. Wir Menschen sind soziale Wesen.

Wir müssen unser Gesundheitssystem so fit machen, dass wir die nächste Pandemie überstehen. Wenn wir das schaffen, können wir auch die Eigenverantwortung des Einzelnen wieder mehr in den Vordergrund rücken. Unser Gesundheitssystem war zu Beginn der Krise überlastet, deshalb musste man ja die Welle verlangsamen. Wir hatten nicht genug Beatmungsgeräte, Schutzanzüge und -masken, um unsere Pflegekräfte auszustatten. Daraus müssen wir Konsequenzen ziehen.

Die große Lehre aus der Pandemie ist, dass wir unser Gesundheitssystem neu überdenken müssen. Während wir vorher über die Schließung vieler Krankenhäuser geredet haben, sind wir jetzt heilfroh, dass wir Kapazitäten hatten. Wir müssen auch über die Anzahl und Finanzierung der Krankenhäuser nachdenken - muss der Staat eingreifen? Ich will kein National Health System wie in England oder Amerika, aber wir müssen uns die Frage stellen, was ein krisenfestes Gesundheitssystem dem Staat und unsere Gesellschaft wert ist.

Was wird sich diesbezüglich ändern in den kommenden Jahren?

Ich könnte mir vorstellen, dass das nächste Jahrzehnt ein Jahrzehnt der Gesundheit wird. Dabei steht die Frage im Zentrum: Wie erreichen wir die beste Medizin für die Menschen? Bislang belohnen wir im System die Krankheit und nicht die Gesundheit, die Geschwindigkeit und nicht die ganzheitliche Betrachtung des Menschen und die Zuwendung. Gewinnmaximierung darf nicht der Maßstab im System sein.

Wir dürfen nach Corona nicht zur Tagesordnung übergehen. Wir müssen den Systembruch nutzen, um Dinge zu tun, über die wir bisher nur diskutiert haben wie zum Beispiel überbordende Bürokratie abzubauen, die Abläufe flexibler gestalten. Wenn wir jetzt die Kurve nicht kriegen, werden wir das vielleicht nie mehr schaffen. Wenn nicht jetzt, wann dann! Das Gesundheitssystem ist so komplex, dass keiner mehr durchblickt. Wir haben bislang immer nur an Stellschrauben gedreht. Ich glaube, dass die Intransparenz des Systems zum Teil gewollt ist, weil die diversen Gruppen im System gar kein Interesse daran haben, dass jemand durchblickt. Wir müssen den Menschen in den Mittelpunkt stellen und vom Patienten her denken, nicht vom Standpunkt der Lobbygruppe.

Ich würde gern noch auf das Konjunkturpaket der Bundesregierung zu sprechen kommen. Meinen Sie nicht, dass es zu „gießkannenartig“ ist? Drei Prozent weniger Mehrwertsteuer, fallen kaum ins Gewicht. Für arbeitslose Menschen oder solche, die in Kurzarbeit sind, ist das nicht wirklich eine Hilfe.

Es geht ja bei dem Maßnahmenbündel nicht nur um die Mehrwertsteuer, man versucht ja auch, für die Familien etwas zu tun mit den 300 Euro pro Kind. Ich glaube schon, dass das Paket von der Wirksamkeit her ausgewogen ist, zumal die Mehrwertsteuer die meiste Breitenwirkung erzielt, da sie beim Konsum ansetzt. Aber ich schließe nicht aus, dass man noch einmal nachsteuern kann.

Vielleicht wäre es besser gewesen, die Mehrwertsteuer drastisch zu senken, um zehn Prozent zum Beispiel bis Ende des Jahres – nur in Ladengeschäften, nicht im Internethandel. Dann würden die Leute kaufen und damit den Innenstädten helfen. Vielleicht hätte man ja auch das Arbeitslosengeld für jene, die in der Krise arbeitslos geworden sind, aufstocken oder verlängern können. Davon hätte die Bevölkerung mehr gehabt.

Wir müssen schauen, wie die Arbeitslosigkeit sich jetzt entwickelt. Ich hoffe, dass die Lage nicht so dramatisch wird, wie sie derzeit eingeschätzt wird. Die Wirtschaft anzukurbeln, ist ein zentrales Thema. Das wird durchaus mühsam, denn einige Branchen sind richtig runtergefahren. Wir müssen auch schauen, wie die Situation mit Corona sich entwickelt und ob es eine zweite Welle gibt. Wir sind noch nicht durch aus meiner Sicht. Es wird spannend werden, wie die Situation sich weiterentwickelt. Das ist wie ein Blick in die Glaskugel.