„Handle with care“!

Abgefahren und provokant: Premiere von Kafkas "Die Verwandlung" im Studio

veröffentlicht am 30.01.2018

Sandro Šutalo und Tobias Loth (v.li.) verkörpern Gregor Samsa und seine Schwester Grete. Das Vorschaubild zeigt Tobias Loth (rechts) und - roboterhaft - Jan Arne Looss als Gregors Vater bzw. väterliches Über-Ich. Fotos: Karl Forster/Landestheater Schwaben

Memmingen (as). Franz Kafkas 1915 erschienene Novelle „Die Verwandlung“ ist ein Klassiker der modernen Literatur und ein beliebtes Sujet des postmodernen Theaters. Das bizarre Geschehen um den Handlungsreisenden Gregor Samsa, der sich über Nacht in einen Käfer verwandelt, ist hinlänglich bekannt und bietet reichlich Interpretationsspielraum. Diesen nutzt Pia Richter (dem Memminger Theaterpublikum bekannt durch Ihre „schräge“ Inszenierung von „Effi Briest“) für eine weitere provozierende und auch schockierende Klassiker-Inszenierung, die vom Premierenpublikum mit großem Beifall aufgenommen wird. Tobias Loth, Jan Arne Looss,  und Sandro Sutalo verkörpern bravourös den kafkaesken Alptraum um das Schicksal eines Angestellten, der in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft nicht mehr funktioniert.

Gregor (Tobias Loth) wacht nach einer unruhigen Nacht als Käfer auf ...

„Handle with care“: Eine große Kiste (die später zur Wand ausgefaltet wird) steht auf der klinisch-weißen Studiobühne. Ein Bühnenhelfer befreit die Akteure aus dem hölzernen Kokon, in den sie eingepfercht sind wie zu einem Viehtransport: Drei fünftagebärtige Männer im Schiesser-Look, halb in Plastik verpackt, mit blonden Zottelperücken auf dem Kopf drehen dem Publikum erst mal den Allerwehrtesten z:. „Es“,  „Ich“ und „Über-Ich“ ist darauf zu lesen.

Mit der Beschriftung der grotesken Outfits ist die psychoanalytische als eine der Interpretationsebenen des Stücks angedeutet, sicherlich auch in Anspielung auf den Vater-Konflikt, der Kafkas frühe Erzählungen durchzieht wie ein roter Faden.

Zugleich nehmen die Protagonisten in ihrem kontroversen Gespräch über das in drei "Kapitel" aufgeteilte Stück, das der ersten Szene vorangeht, ein wesentliches Gestaltungselement der Inszenierung vorweg: Den Wechsel zwischen epischem, also erzählerisch-beschreibendem, und einfühlendem Identifikationstheater.

Mehrere Spiel- und Erzählebenen

Mit anderen Worten: Jan Arne Looss, Tobias Loth und Sandro Sutalo purzeln immer wieder aus ihren Rollen heraus und tauschen spielerisch wieder in sie ein. Mal sind sie alle drei Erzähler, die sich, ihren psychoanalytischen Zuweisungen entsprechend, um die Deutung einer Szene streiten oder sich gegenseitig Handlungsanweisungen geben, dann wieder erleidet Tobias Loth als das „Ich“ Gregors sein hilflos-zappelndes Käferdasein (das auch als "Burnout" interpretiert werden könnte).

"Über-Ich" und "Ich" vereint: Jan Arne Looss (links) mit Tobias Loth.

Jan Arne Looss als Über-Ich schlüpft, seiner normativen Natur gemäß, in die Rollen von Gregors Vorgesetztem und des zunehmend roboterhaft anmutenden Vaters des Junggesellen Gregor. Sandro Sutalo kokettiert als vermeintlich liebevolle Schwester Grete im bauschigen Plastik-Tütü. Auf durchsichtigen Plastik-Masken, welche die Figuren wie ein Visier vor dem Gesicht tragen, sind Attribute wie Hitlerbärtchen oder Lippenstift aufgemalt.

Verwahrlosung des Mensch(lich)en

Hier wird die zweite Interpretationsangebot der Inszenierung sichtbar: Das Entsetzen, das Gregor in seiner ausbeuterischen Familie auslöst, ist vor allem bedingt durch seine Andersartigkeit. Als „Ratte“ (ein Schimpfwort für die Juden im Dritten Reich) und „Zecke“ grenzen Eltern und Schwester den nutzlosen „Mistkäfer“ aus, verfolgen, erniedrigen und vernichten ihn schließlich. Je schwächer der bisherige Alleinverdiener der Familie wird, desto stärker und mächtiger fühlt sich seine Familie. Im dritten Kapitel endet die Verwahrlosung des Mensch(lich)en in einer veritablen Schlammschlacht.

„Eine Panne im System“

Gesellschaftspolitisch betrachtet ist der ineffiziente Gregor „eine Panne im System“, wie es im Abgesang auf den Kapitalismus heißt, welcher dem zweiten Kapitel vorangeht. Schlimmer noch: Er hat als Käfer Zeit, nachzudenken - über Politik zum Beispiel, und über seine Familie ...

„Was würde passieren, wenn er als Käfer zuhause bliebe?“, fragen die Protagonisten und beschließen, diese Option "durchzuspielen".  Und lange bevor sich die Kiste am Ende wieder schließt ist klar: Sie wird für Gregor zum Sarg.

Das Kafkaeske wird zum Grotesken

Der begeisterte Beifall des Premierenpublikums gilt einer einfallsreichen und ungewöhnlichen schrill-schrägen, auch durchaus sinnlichen Inszenierung, in der das Kafkaeske zum Grotesken wird. Und drei Schauspielern, die sich gemeinsam durch Abgründe voller Blut und Schlamm wühlen und aus all dem am Ende strahlend hervorgehen.