"Hoffen, den Dorffrieden wiederherzustellen"

Bürgerentscheid zu Erschließungsbeiträgen für Altstraßen

veröffentlicht am 17.12.2020

Der Weberweg in Memmingerberg ist eine der Straßen, für die bis 31. März 2021 Erschließungskosten abgerechnet werden sollen. Foto: Sonnleitner

Memmingerberg (as). In Memmingerberg soll am 7. Februar ein Bürgerentscheid in Form eines Ratsbegehrens darüber entscheiden, ob die Gemeinde den Anliegern von acht Straßen, deren Bau vor mindestens 25 Jahren begonnen wurde, nahezu die Hälfte der Erschließungskosten erlässt. Der Bau der betreffenden Straßen wurde vor mehr als 25 Jahren begonnen und erst jetzt abgeschlossen.

Seit einiger Zeit sorgt die Abrechnung von Straßenerschließungsbeiträgen für vor mindestens 25 Jahren begonnenen Altanlagen für großen Unmut bei den Anliegern. Betroffen sind die Straßen Am Ziegelstadel, Oberer Ziegeleiweg (Gewerbegebiet), ein Teil der Benninger Straße, die Obere Grubstraße, Höhenstraße, Werdenstraße sowie der Weberweg und der Grüntenweg. Das Gesamtinvestitionsvolumen aller acht betroffenen Alterschließungsanlagen liegt bei rund 3,8 Millionen Euro.

Eine über 60 Mitglieder starke Bürgerinitiative verwies auf die existenzbedrohende Situation für manche Anlieger durch die unerwarteten (zwischen 23 und 46 Euro pro Quadratmeter liegenden) Forderungen von 90 Prozent der Erschließungskosten und strebte einen Bürgerentscheid an. Dieser wurde am 16. November vom Gemeinderat zurückgewiesen, weil der Bürgerentscheid laut Gemeinde "auf ein rechtlich unzulässiges Ergebnis gerichtet und damit rechtswidrig" war.

Ratsbegehren statt Bürgerbegehren

Da die Gemeinde die politische Auseinandersetzung zu diesem Thema nach eigener Aussage nicht scheut und "im Sinne der Bürgernähe eine demokratische Entscheidung der Gemeindebürger" herbeiführen wollte, entschlossen sich die Gemeindevertreter zum Ratsbegehren, das der Intention des Bürgerbegehrens entspricht. Dies auch vor dem Hintergrund, dass das Quorum von zehn Prozent mit 320 Unterschriften für das Bürgerbegehren deutlich überschritten war. „Das Ratsbegehren trägt dem Willen des Bürgers Rechnung, mitzuentscheiden“, so Bürgermeister Alwin Lichtensteiger.

Dabei hofft er, dass die Mehrheit der Bürger mit „Nein“ votiert und damit keiner Ausnahmeregelung zustimmt. Denn müsste die Gemeinde tatsächlich 50 Prozent der Erschließungskosten tragen, entstünde ein riesiges Haushaltsloch: „An die zwei Millionen fehlten im Steuersäckel der Gemeinde, dann wären wir gezwungen, die Hebesätze zu erhöhen und Zuschüsse für öffentliche Einrichtungen, Vereine und Kirchen zu kürzen und auch ggf. anstehende Maßnahmen nach hinten zu schieben“, argumentiert Bürgermeister Lichtensteiger auf Nachfrage der Lokalen.

"Haben wir mit Altlasten zu kämpfen"

Bis 31. März müssen alle Altanlagen fertiggestellt und abgerechnet werden, denn laut Kommunalabgabengesetz gilt ab 1. April eine neue Höchstfrist von 25 Jahren für die Erhebung von Erschließungsbeiträgen. Die genannten Straßen wurden laut Auskunft von Lichtensteiger in den 80er und 90er Jahren begonnen, werden jedoch erst jetzt baulich fertig gestellt. „Es ist damals versäumt worden, die Anlagen fertig zu stellen, jetzt haben wir mit Altlasten zu kämpfen“, so Lichtensteiger.

Der Bürgermeister verweist darauf, dass sich der Gemeinderat seit Ende 2015 intensiv und regelmäßig auch in öffentlichen Sitzungen mit dem Thema beschäftigt habe und auch diverse Anliegergespräche abgehalten worden wären. "Abrechnungsgerechtigkeit, Gleichbehandlung und Wahrung des Gemeindefriedens stehen vor den Einzelinteressen. Alle früheren und auch alle zukünftigen Erschließungsanlagen wurden und werden im Verhältnis 90 :10 beziehungsweise per Ablöseverträge abgerechnet. Auch in Zukunft werden wir versuchen, die Entscheidungen im Gemeinderat umsichtig, nachhaltig und wertschöpfend für die Gemeinde zu treffen“, so Lichtensteiger abschließend.

Wie geht es jetzt weiter?

Da eine Bürgerversammlung coronabedingt nicht stattfinden kann, werden die Bürger Anfang nächsten Jahres über einen Flyer informiert, in welchem die Gemeinde den Sachverhalt sachlich und objektiv darlegen will. „Ich habe Verständnis für den Unmut der Anlieger, aber die Gemeinde ist gehalten, die Beiträge einzufordern. Wissentlich auf Steuerbeträge zu verzichten, geht mit Blick auf das Gemeinwohl nicht, dies wäre auch nicht im Sinne der Gleichbehandlung“, argumentiert Lichtensteiger wiederholt, der sozialerträgliche Zahlungsmodalitäten für die betroffenen Anlieger verspricht. „Damit hoffen wir, den Dorffrieden wiederherzustellen, denn es ist einige Unruhe im Dorf entstanden.“

Bürgerinitiative hat Widerspruch eingelegt

Die Interessensgemeinschaft hat sich indes abgesichert und formell gegen die Ablehnung des Bürgerbegehrens Widerspruch eingelegt bzw. eine Aussetzung des Verfahrens beantragt, weil sie befürchtet, dass das Ratsbegehren am 7. Februar kurzfristig abgesagt wird und die Frist bis zum 31. März 2021 für ein neues Bürgerbegehren dann nicht mehr eingehalten werden könnte.

Grundrecht auf verlässliche Lebensplanung

„Das Hauptargument der Gleichbehandlung geht ins Leere“, meint Manfred Eberhard, Vorstand der Firma Ematec Am Ziegelstadel, weil durch die verschleppte und unerwartete Forderung das Grundrecht des Bürgers auf verlässliche Lebensplanung ausgehebelt werde. Vor über 30 Jahren hätten einige Anlieger die Straße mit eigener Arbeit hergestellt, „jetzt sind sie im Ruhestand, und können von ihrer Rente die hohe Gebühr der Straßen Fertigstellung nicht bezahlen“.

Seine Firma müsste 250.000 Euro zahlen, obwohl ihm damals zugesichert würde, dass der Feinbelag, der bis heute fehlt, mit nur ein bis zwei Euro pro Quadratmeter zu Buche schlagen würde. Demnach wären jetzt nur ungefähr 20.000 Euro offen. Nun werde die Straße komplett rückgebaut und neu geplant, wobei die Baukosten heute wesentlich höher sind als damals. „Hätte ich das geahnt, hätte ich mein Unternehmen niemals in Memmingerberg angesiedelt“, so Eberhard, „meine Entscheidung für den Standort hat auf falschen Informationen basiert“.

"Fühle mich über den Tisch gezogen"

„In Kürze entscheidet das Bundesverfassungsgericht anlässlich eines Falles im Saarland darüber, ob es eine zeitliche Obergrenze für Straßenerschießungen geben soll. Das Urteil steht noch nicht fest. Sollte das Zeitfenster kleiner sein als 25 Jahre, bleibt die Gemeinde zu 100 Prozent auf den Kosten sitzen“, informiert Eberhard, einer der Sprecher der Bürgerinitiative. „Wir verstehen nicht, dass die Gemeinde sich nicht bewegt, zumal sie finanziell gut dasteht und eine vergleichsweise geringe Pro-Kopf-Verschuldung hat.“ Er fühle sich über den Tisch gezogen. Seine Firma habe noch kein Gebührenbescheid erhalten, will aber auf jeden Fall klagen.

Auch die 67-jährige Rentnerin Gabi Graf, die ein großes Grundstück am Ziegelstadel besitzt, fühlt sich betrogen: Sie habe die 90 Prozent der Ersterschließung bereits 1985 bezahlt, doch nun werde die Straße neu erfunden.

Rentner müssen Kredit aufnehmen

„Ich bin in richtiger Wutbürger geworden“, sagt ein anderer Rentner im Gespräch mit der Lokalen. Er muss einen Kredit aufnehmen, um die Forderung über einen fünfstelligen Betrag begleichen zu können. Mit der Zahlung habe er nicht gerechnet, weil sein 1956 gebautes Haus von einer historischen Straße aus erschlossen wurde. Doch eine Seite seines Grundstücks grenzt an den Weberweg, ein Schotterweg, der in den letzten Jahrzehnten aufgeteert worden sei als Durchfahrt für die Kläranlage. Doch nun wird die Straße komplett erneuert „Das hätte es für uns nicht gebraucht“. Die Rechnung der Gemeinde bereite ihm und seiner Frau schlaflose Nächte. „Wir hatten gehofft, dass die Gemeinderäte auf unserer Seite sind, wir fühlen und ungerecht behandelt“, klagt der Rentner.