Pflegenotstand, Rentenkürzung und Altersarmut – wie gerecht lebt es sich in Deutschland?

Lokale-Redakteurin Antje Sonnleitner im Gespräch mit Heinrich Minst

veröffentlicht am 10.12.2017

Heinrich Minst, Mitglied vdk Kreisverband Unterallgäu, stellvertretender Vorsitzender ver.di Unterallgäu. Foto: privat

Memmingen (as). Anlässlich der jüngsten Mitgliederversammlung des VdK Ortsverband Memmingen referierte der erste Vorsitzende Wolfgang Schmidhauser über die aktuelle Situation und die Zukunft des Renten- und Pflegesystems. Besonders hob er die schlechte Situation der Frauen hervor, die sowohl in den alten, besonders aber in den neuen Bundesländern eine Rente zu erwarten hätten, die kaum den allgemeinen Anforderungen genüge.

Der derzeit erfreuliche Trend steigender Renten lasse sich nicht lange halten, befürchtet Schmidhauser. Zwar liege das Rentenniveau derzeit noch bei 48,2 Prozent, langfristig werde es sich aber bei rund 44 Prozent einpendeln. Auch bei der Pflege schaue es in Zukunft nicht rosig aus.

Dieser Meinung schließt sich der ehemalige Vorsitzende des VdK Ortverbands Heinrich Minst (vdk Kreisverband Unterallgäu) an. Anlässlich seines Referats über die Rentenentwicklung sprach Lokale-Redakteurin Antje Sonnleitner mit Heinrich Minst.

Herr Minst, das neue Pflegestärkungsgesetz (PSG II) wird, besonders was die ambulante Betreuung betrifft, positiv bewertet. Wie beurteilen Sie die Neuerungen?

Wir müssen die Entwicklung auf längere Zeit beobachten. Ob das PSG II  konstruktiv ist, hängt vor allem davon ab, wie der medizinische Dienst mit der Begutachtung und Einstufung der Patienten in die Pflegegrade umgeht. Oft beurteilen die Zuständigen den Zustand eines Patienten konträr.

Aber grundsätzlich ist es doch gut, besonders für die Betroffenen, die ambulante Pflege und präventive Maßnahmen zu stärken?

Natürlich, doch arbeitsrechtlich ist die Situation nicht geklärt. So darf ein Arbeitnehmer, der einen Pflegebedürftigen zu Hause betreut oder eine Pflege organisieren muss, nur zehn Tage vom Job pausieren. Ein eventueller Krankenhausaufenthalt des Pflegebedürftigen ist darin bereits mit enthalten.

Da es de facto keine 24-Stunden-Pflege gibt, müssen schwer Pflegebedürftige aber nach wie vor ins Heim.

Ja, und das ist ein zunächst einmal ein personelles Problem. Die vom PSG versprochenen Mehrleistungen sind kaum zu realisieren, weil die erforderlichen Pflegekräfte aufgrund des unattraktiven Verdienstes und der Dienstzeiten gar nicht vorhanden sind. Oft müssen ein oder zwei Pflegekräfte drei Stockwerke betreuen, da bleibt ihnen nichts andere übrig, als ihre Patienten „ruhig zu stellen“.

Und günstiger geworden ist der Aufenthalt im Pflegeheim durch das neue Gesetz auch nicht …

Nein, der vom Pflegebedürftigen bzw. dessen Angehörigen zu tragende Eigenanteil an den Heimkosten ist zumindest  in den Pflegegraden 2 bis 5 gleichgeblieben Je nach Standort liegt dieser, - nach Abzug der Leistungen aus der Pflegeversicherung - noch bei 2-3.000 Euro. Wenn die Rente und das Ersparte nicht reichen, kann das Eigenheim verwertet werden, oder die Kinder müssen zahlen.

Was sagen Sie als Unterallgäuer stellvertretender Vorsitzender  von ver.di eigentlich dazu, dass Pflegekräfte sich nicht massiver wehren und eher selten streiken?

Wenn sie streiken, geht das zulasten der Schwächsten: Sie müssen ihre Patienten im Stich lassen.

Als Ver.di fordern wir gemeinsam mit den Beschäftigten die Festlegung einer Mindestpersonalausstattung. Falls diese Vorgaben nicht eingehalten werden, muss es Regelungen zum Belastungsausgleich geben. Dies alles kann es nur mit einer starken gewerkschaftlichen Präsenz in Pflegeeinrichtungen geben.

Wie lautet ihre Prognose zur Rentenentwicklung, Herr Minst?

Der Rentenanteil war schon einmal bei 50 Prozent und ist seitdem kontinuierlich gesunken. Egal, wer regiert, es ist nicht absehbar, dass er dauerhaft steigt, weil wir uns das angeblich nicht leisten können -  obwohl die Rententöpfe dank der guten Wirtschaftslage bis oben hin voll sind. Hier wird von der Politik auch gern die alte gegen die junge Generation, die nicht zu stark belastet werden soll, ausgespielt. Spätestens wenn die geburtenstarken Jahrgänge in Rente kommen, wird uns die Altersarmut überrollen.

Wolfgang Schäuble sprach vor ein paar Monaten davon, das Rentenalter auf 70 Jahre anzuheben. Nur so sei das Rentensystem haltbar. Wie ernst muss man eine solche Aussage nehmen?

Da Rentenkürzung das Ziel ist, könnte diese Horrorvision durchaus Realität werden. Wer dann früher in Rente geht, muss saftige Abschläge in Kauf nehmen. Oft hört man in Unternehmen, dass junge Mitarbeiter sich über die älteren „Bremser“ mokieren. Und wer über 50 ist, ist schwer zu vermitteln und fällt durch jede Statistik.

Wer zu langsam ist oder nur noch bis zu 5 Stunden arbeiten kann, bekommt  eine Erwerbsminderungsrente?

Ja, und von dem wenigen, was er dann bekommt, muss er auch noch Abzüge zahlen. Wir haben Geld im Überfluss, aber dort werden Maßstäbe angesetzt, die ich nicht nachvollziehen kann. Als ehrenamtlicher Richter beim Sozialgericht erlebe ich oft, wie Angestellte mit 6 oder 700 Euro im Monat nach Hause gehen. Was soziale Gerechtigkeit betrifft, liegt hier zu Lande noch vieles im Argen. Dass Arbeit nicht arm machen darf, das ist eine Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen.

Vielen Dank für das aufschlussreiche Gespräch, Herr Minst!