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"Schon der erste Stein war einer zu viel"

Gunter Demnig verlegt den 75.000. Stolperstein

veröffentlicht am 30.12.2019
Stolpersteine

Die beiden neuen Stolpersteine in der Kalchstraße 11 erinnern an das Memminger Ehepaar Benno und Martha Rosenbaum, das 1941 vor den Nazis nach Uruguay flüchtete. Fotos: Sonnleitner

Memmingen (as). Bei eisigen Temperaturen und großem Medienaufgebot verlegte der Künstler Gunter Demnig nun den 75.000. Stolperstein. Der Jubiläums- und ein weiterer Stein erinnern an das Schicksal von Martha und Benno Rosenbaum, ein jüdisches Memminger Ehepaar, das 1941 vor den Nazis floh. Zu Ehren des Jubiläums war Ludwig Spaenle, Antisemitismusbeauftragter der Bayerischen Staatsregierung, angereist.

Die Nazis hatten während des Pogroms am 10. November 1938 die Wohnung der wohlhabenden Eheleute Rosenbaum verwüstet. Das Paar floh 1941 nach Montevideo, in die Hauptstadt Uruguays. Dort beging Benno Rosenbaum drei Jahre später Selbstmord. Dem Verein Stolpersteine zufolge hatte er es nicht ertragen, aus seiner Geburtsstadt Memmingen vertrieben worden zu sein.

Bereits 123 Steine in Memmingen

Ein größerer Kreis von Kommunalpolitikern und Memminger Bürgern verfolgte gestern das Geschehen vor dem Haus Kalchstraße 11, das gleichzeitig ein neues Jubiläum des größten dezentralen Mahnmals der Welt darstellte. Die ins Pflaster eingelassenen Stolpersteine mit den von Hand gravieren Messingstafeln erinnern an die Opfer des Nationalsozialismus in 26 europäischen Ländern, allein in Memmingen wurden seit 2014 bislang 123 Steine vor den ehemaligen Wohnhäusern Vertriebener und deportierter jüdischer Mitbürger installiert, weitere 20 sollen im Sommer hinzu kommen.

Stolpersteine

Gunter Demnig nach getaner Arbeit.

"Nie wieder" reicht nicht

„Es ist mir eine Herzensangelegenheit, jenen zu gedenken, denen großes Unrecht widerfahren ist. Unrecht, das sich niemals wiedergutmachen lässt, aber dass uns in Erinnerung bleiben soll als Mahnung für die Zukunft“, eröffnete Oberbürgermeister Manfred Schilder als Schirmherr des Projekts in Memmingen die Gedenkstunde. Über das „nie wieder“ hinaus müsse die heutige Gesellschaft Verantwortung übernehmen. Dies bedeute, frühzeitig Haltung zu beziehen und gegen Antisemitismus, Rassismus und Nationalismus aufzustehen, „nicht nur zu schweigen, sondern aktiv dagegenzuhalten“, betonte Schilder.

„Erinnern kann Zukunft schaffen"

Die Erinnerungstafeln gäben den Menschen, die durch den nationalsozialistischen Terror ihr Leben oder, wie die Rosenbaums, ihre Heimat verloren haben, ihre Namen zurück, betonte der Antisemitismusbeauftragte Ludwig Spaenle die Bedeutung des Stolpersteinprojekts. „Es waren Menschen aus unserer Mitte, die an den Rand gedrängt wurden und dann letztlich ihr Leben verloren.“

Es sei Teil des Auftrags unserer heutigen Gesellschaft, deutlich zu machen, dass jüdisches Leben ein tiefverwurzelter Teil unserer Gemeinschaft sei und auch weiterhin dazu gehöre. „Erinnern ist etwas, dass Zukunft schaffen kann“, so Spaenle. „Demokratie ist keineswegs selbstverständlich, sondern muss immer wieder neu erarbeitet werden, um wehrhaft zu sein.“

Massive Aktenvernichtung

In der anschließenden Pressekonferenz im Hotel Weisses Ross ging Helmut Wolfseher, der „Stolpersteine in Memmingen e.V.“ vor sieben Jahren gegründet hat, auf die Arbeit des Vereins ein: Die Geschichte der Opfer zu erforschen, erfordere detektivischen Spürsinn, denn massive Aktenvernichtung in Behörden und Ämtern - auch nach 1945 - erschwere das Bemühen um Aufklärung und Aufarbeitung, berichtete Wolfseher.

"Weder Grab noch Grabstein"

Auch Gunter Demning ergriff das Wort: „Der erste Stein war schon einer zu viel“, so der Initiator des Mahnmal-Projekts. Damit auch weiterhin überall dort in Europa, wo Nazis ihr Unwesen getrieben, Menschen ermordet und deportiert haben, Steine verlegt werden können, sei eine Stiftung ins Leben gerufen worden. „Wir freuen uns über jedes Land, jeden Ort, der dazu kommt.“ Das Interesse steige, denn immer mehr Angehörige erfahren von dem Projekt und seien dankbar für das Mahnmal, „denn die meisten der Opfer haben weder Grab noch Grabstein“, so Demnig.

Die Pflege der Steine hat eine Initiative der Staatlichen Realschule im Rahmen eines Praxisprojekts übernommen.

"Ein hochpolitischer Akt"

Über die Steine stolpert in Zukunft übrigens auch Christoph Maier, parlamentarischer Geschäftsführer der AfD im bayerischen Landtag, dessen Kanzlei sich in dem früheren Wohnhaus von Martha und Benno Rosenbaum befindet. Während Demnig der Deutschen Presse-Agentur sagte, der Ort sei gezielt ausgesucht worden, denn AfD-Politiker hätten sich mehrfach gegen die Stolpersteine ausgesprochen, sieht Helmut Wolfseher hier keinen Zusammenhang: Der Akt der Stolpersteinverlegung sei zwar hochpolitisch, so Wolfseher, der Verein jedoch überparteilich. "Uns ist es egal, wie Maier es aufnimmt", antwortete er auf die Frage eines Pressevertreters, ob es sich vor der Kalchstraße 11 nicht nur um Erinnerungs-, sondern auch um Proteststeine handele.

Stolpersteine

Bei der Stolpersteinverlegung: Bürgermeisterin Margareta Böckh, Bürgermeister Hans-Steiger, Oberbürgermeister Manfred Schilder, Helmut Wolfseher, Vorsitzender Stolpersteine e.V., Ludwig Spaenle, Antisemitismusbeauftragter der Bayerischen Staatsregierung, MdL Klaus Holetschek und der ehemalige Staatsminister Josef Miller. Vorne kniend: Gunter Demnig