"Whatever it takes" - Wer erzählt die besseren Geschichten?

IHK-Maiempfang: Soziologe erklärt Dynamik des Kapitalismus

veröffentlicht am 14.05.2019

Moderatorin Maxi Weiss im Gespräch mit Andrea Thoma-Böck (links), Vorsitzende der Regionalversammlung Memmingen Unterallgäu der Industrie-und Handelskammer (IHK). Fotos: Radeck und Sonnleitner

Memmingen (as). "Erwartungen" - das war das Thema beim traditionellen Mai-Empfang der Regionalversammlung Memmingen Unterallgäu der Industrie-und Handelskammer (IHK), der in einem vom Sturm umtobten Zelt am Allgäu Airport stattfand. Festredner das Abends war der Soziologe Professor Dr. Jens Beckert, der einen neuen Blick auf die ambivalente Dynamik des Kapitalismus warf.

In einem Gespräch mit Moderatorin Maxi Weiss berichtete die Vorsitzende und Nachfolgerin von Gerhard Pfeifer, Andrea Thoma-Böck, vom ersten halben Jahr ihrer Amtszeit. Befragt, welche Themen ihr am Herzen liegen, nannte Thoma-Böck die Stärkung der dualen Berufsausbildung sowie eine bessere Ausstattung der Berufsschulen - auch, was deren baulichen Zustand betrifft.

„In intensiver Zusammenarbeit von IHK-Regionalversammlung und Politik die Region zu einem attraktiven Lebens- und Wirtschaftsraum zu entwickeln mit gut ausgestatteten Berufsschulen für die duale Ausbildung“, fasste die Vorsitzende ihre Erwartungen und die Herausforderungen für die Zukunft ihrer fünfjährigen Amtszeit zusammen.

Der steigende Druck im internationalen Wettbewerb mache das Ansiedeln weiterer Fachkräfte erforderlich. Als Voraussetzungen hierfür nannte Thoma-Böck eine attraktive Entwicklung der Innenstadt sowie eine optimale Gesundheitsversorgung durch Fachärzte und durch ein spezialisiertes medizinisches Klinikumsangebot. Die Form der Kooperation des Memminger Klinikums sei dabei zweitrangig. Wichtig sei es außerdem, die Weichen für einen Klinikneubau zu stellen (diese Option wird durch einen Gutachter der Stadt Memmingen derzeit geprüft, Anm. der Redaktion).

„Wir haben Gigantisches geschaffen“

Airport-Geschäftsführer Ralf Schmid.

Der Hausherr, Airport-Geschäftsführer Ralf Schmid, eröffnete sein Grußwort mit einem „Glückwunsch uns allen zu zwölf Jahren Allgäu Airport“. Er dankte den Visionären aus regionaler Wirtschaft und Politik für ihr Vertrauen: „Wir haben Gigantisches geschaffen“, so Schmid. Mit 40 Prozent Incoming Gästen, die im Schnitt 8,3 Tage in der Region blieben und dort 237 Millionen Euro pro Jahr ließen, habe man einen Spitzenwert erreicht. Auch die Unternehmen profitierten, denn der Airport verbessere die Chancen auf weitere Fachkräfte, so Schmid.

„Was wird aus der Zukunft des Fliegens, wenn der Friday-for-Future-Gedanke in politisches Handeln übersetzt wird?“, stellte Maxi Weiss eine unbequeme Frage, die durchaus einen Platz am Erwartungshorizont beansprucht. „Die Branche kann sich nicht wegducken“, gab Schmid zu, „der E-Flieger wird wohl noch länger auf sich warten lassen“. Er vertraue jedoch in die innovative Kraft der Branche, so habe sich zum Beispiel in punkto Spritverbrauch schon einiges getan.

"Heute Science Fiction, morgen Reportage"

Der Soziologe und Festredner des Abends Prof. Dr. Jens Beckert.

Was haben Literatur und Wirtschaft gemeinsam? Den Hang zur Fiktionalität bzw. das gebrochene Verhältnis zur Realität. Das macht der Soziologe und Festredner des Abends Prof. Dr. Jens Beckert, Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, deutlich. Hier wie dort gehe es darum, glaubwürdige Zukunftsszenarien zu entwerfen, die ihre eigene Realität erzeugen und die Dynamik des Kapitalismus vorantreiben. „Erwartungen und Vorhersagen steuern Handlungen, das ist ein zentraler Mechanismus im Wettbewerb“, erklärt Beckert den aufmerksamen Zuhörern. Zukunftsvisionen werden also zum zentralen Moment für wirtschaftliche Entwicklungen.

Beispiele dafür, wie Annahmen, Prognosen und Fiktionen wirtschaftliches Handeln prägen und innovative Prozesse fördern, sind nicht nur die „Börsenstories“ der Aktienmärkte oder das „Roadshow-Marketing“. Sämtliche Marktteilnehmer erzählen Geschichten, um die Zuversicht der Investoren zu beeinflussen. Macht übt aus, wer die glaubhaftere Geschichte erzählen und damit die Erwartungen beeinflussen kann, Tatsachen sind dabei zweitrangig.

Am Beispiel der Firmen Ford und Tesla erläuterte Beckert, warum Investoren Tesla bevorzugen, obwohl Ford der das größere sowie gewinn- und traditionsreichere Unternehmen ist: Von den Marktakteuren wird eine Vorstellung der Zukunft bewertet – und hier macht Tesla die attraktiveren Versprechen. „Die Vorstellungen, nach denen wir handeln, stehen im Mittelpunkt kapitalistischer Dynamik und Wirtschaftsentwicklung“, macht Beckert noch einmal deutlich.

Realität gewordenes Wunschdenken

Auch Leitzins-Flüsterer Mario Draghi beherrscht die Kunst des Erwartungsmanagements. Seine Worte „Whatever it takes“ im Jahr 2012 waren ein Meilenstein in der Bekämpfung der Euro-Krise. Ein Beispiel für Realität gewordenes Wunschdenken ist auch Angela Merkels Aussage „Die Spareinlagen sind sicher“ angesichts der Finanzkrise 2008: Auch hier beeinflussten veränderte Erwartungen erfolgreich das gegenwärtige Handeln. Self fulfilling prophecies nennt man das in der Psychologie.

Doch die Zukunft ist offen und ungewiss, Märkte verhalten sich weder rational noch effizient. Das hat auch die rasante technologische Entwicklung der letzten Jahrzehnte gezeigt: Noch in den 90er Jahren gab es weder Internet noch Smartphone. Eine Wirtschaft, die so stark auf Erzählungen aufbaut, ist auch fragil. So birgt das Handeln im „Als ob-Modus“ nicht nur Chancen für visionäre Innovationen, die uns heute vielleicht noch "spinnert" erscheinen, sondern auch Risiken: „Das Konzept der fiktionalen Erwartungen zielt nicht auf Täuschung und Betrug, birgt aber Potenzial dafür“, erklärt der Referent.

Das Magier-Duo "Timothy Trust & Diamond" bezauberte die Gäste.

Beckert warnt vor Makrokrise

Und was geschieht, wenn der Glaube abhanden kommt? - „Erwartungen an und Vertrauen in die Zukunft führen zu Veränderungen und Wachstum, ihr Entzug zu Krise und Verlust“, gibt Professor Beckert zu bedenken. Oft bilden Visionen den Auftakt einer Erfolgsgeschichte, zum Beispiel der eines innovativen Startups. Doch „wenn an eine Zukunftserwartung der Wirtschaft nicht mehr geglaubt wird, ist das der Moment einer Makrokrise der Gesellschaft“, warnt der Soziologe.

Auf Nachfragen von Moderatorin Maxi Weiss, wann er mit der nächsten Krise rechne, weicht Beckert aus und gibt stattdessen zu bedenken, dass alternde Gesellschaften in ihrer Innovationsfähigkeit nachließen. Auch die zunehmende soziale Ungleichheit sei kontraproduktiv für die Innovationsfähigkeit der Gesellschaft: „Akteure müssen sich vorstellen können, durch eigenes Tun in der Gesellschaft aufzusteigen zu können“, so Professor Beckert.

Zauberhaftes Magier-Duo

Mit den Erwartungen und Vorstellungen des Publikums spielte auf höchst kreative und originelle Weise das zauberhafte Magier-Duo "Timothy Trust & Diamond". Ob Gedankenlesen, Entfesselungskünste oder Kartentricks - ihre Show war rasant, witzig und bot viele Überraschungsmomente. Atemberaubend das Durchlöchern der holden Jungfer im Karton mit 15 Säbeln, das Diamond unter starkem Beifall des Publikums ohne einen Kratzer übersteht.

Info: Jens Beckert, geboren 1967, ist seit 2005 Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung und Professor für Soziologie in Köln. Zuvor hat er u. a. in Göttingen, New York, Princeton, Paris und an der Harvard University gelehrt. 2005 wurde er mit dem Preis der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften ausgezeichnet.